Werden die Menschen immer aggressiver?

Auch in der Oberpfalz gibt es mehr Gewalttaten und verbale Attacken: Behörden, Kliniken und Polizei setzen auf Deeskalation.


Von Isolde Stöcker-Gietl

Regensburg.Im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Regensburg kümmert sich bislang ein hilfsbereiter Pater um Besucher, zeigt ihnen den Weg in die Notaufnahme oder zu den Stationen. An anderen Kliniken in Bayern ist die Situation deutlich angespannter. In München, Nürnberg und Ingolstadt empfangen nach mehreren Übergriffen jetzt Sicherheitsdienste Patienten und Angehörige. Auch die Deutsche Bahn rüstet angesichts zunehmender Gewalt in den bayerischen Bahnhöfen auf. Polizei und Rettungskräfte schlagen Alarm und die Stadtverwaltung Regensburg schafft 2018 eine neue Stelle im Bereich Sicherheit am Arbeitsplatz. Dort war bislang nur das Jobcenter mit Wachpersonal ausgestattet. Karl Eckert, Leiter des Personal- und Verwaltungsreferats, sagt: „Die Hemmschwelle der Menschen gegenüber Behörden nimmt ab.“

Aggressives Auftreten bis hin zu Handgreiflichkeiten und Fällen massive Gewalt wie zuletzt gegen Polizeibeamte in Regensburg erwecken den Eindruck, dass eine Verrohung der Gesellschaft stattfindet. Der Leiter des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Regensburg, Prof. Dr. Henning Müller, kann dies so nicht bestätigen. „Die Fallzahlen allein sind noch nicht aussagekräftig.“

„Uns geht es um Prävention“

Schlagzeilen zu Gewalt gegenüber Mitarbeitern im öffentlichen Dienst gibt es mittlerweile fast täglich. Im Internet listet die Seite „angegriffen.info“ – eine Kampagne der Deutschen Beamtenbundjugend in Nordrhein-Westfalen – Übergriffe auf Polizisten, Behördenmitarbeiter und Bahnpersonal auf. Allein für März sind es 65 Fälle, die vom Beschimpfen und Bespucken bis zum versuchten Tötungsdelikt reichen. In der Regensburger Stadtverwaltung spricht Eckert von „bislang sehr, sehr seltenen Fällen, in denen Situationen eskalierten und Mitarbeiter Hilfe benötigten. Ämter, in denen das Gefahrenpotenzial erhöht ist, sollen nun durch die neue Fachkraft ermittelt und mit Sicherheitssystemen ausgestattet werden. Eckert nennt etwa ein Alarmierungssystem. „Uns geht es in erster Linie darum, die Prävention zu verbessern.“


„Uns geht es in erster Linie darum, die Prävention zu verbessern“
Karl Eckert, Leiter des Personal- und Verwaltungsreferats der Stadt Regensburg

In den bayerischen Arbeitsagenturen und Jobcentern gehen die Sicherheitsvorkehrungen schon deutlich weiter. „Bedauerlicherweise kamen gefährliche Zwischenfälle in der Vergangenheit vereinzelt vor“, so Pressesprecherin Olga Saitz. So hatte 2014 ein psychisch kranker Mann im Jobcenter in Rothenburg ob der Tauber einen Psychologen erstochen. Danach war ein umfangreiches Sicherheitskonzept erarbeitet worden. Besucher werden von externen Sicherheitskräften im Eingangsbereich empfangen, und sind auch zum Schutz auf den Fluren eingesetzt. Die Büros der Mitarbeiter sind außerdem so ausgelegt, dass offene Fluchtwege möglich sind, sagt Saitz. Den Mitarbeitern werden Deeskalationsschulungen angeboten. „Aber eine hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben“, heißt es dort.

Der Psychiater Prof. Dr. Reinhard Haller, der österreichische Gewalttäter wie den Frauenmörder Jack Unterweger und den Briefbombenattentäter Franz Fuchs begutachtet hat, sieht eine „aggressive Dauerspannung“ als Hauptursache für die zunehmend explosive Stimmung in der Gesellschaft. Wie er der Mittelbayerischen Zeitung sagte, stiegen die Anforderungen und gleichzeitig fehle den Menschen heute das Ventil, um Spannung zu entladen. „Harte Arbeit, welche eine wirksame Form der konstruktiven Aggressionsumwandlung darstellt, verschwindet mehr und mehr.“ So werde unbewusst jede Gelegenheit zur Entladung genutzt. „Die Gewalttätigkeit richtet sich dann gegen alle und jeden, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind.“

Dennoch kommt der Regensburger Kriminologe Henning Müller zu der Einschätzung, dass es keine Hinweise auf eine tatsächliche Zunahme von Gewalttaten gibt. „Es ist ein gefühlter Eindruck. Wir sind sensibler geworden und bringen auch mehr Fälle zur Anzeige. Daraus lässt sich aber nicht automatisch ableiten, dass Menschen aggressiver geworden sind.“ Zudem würden auch Medien häufiger berichten, was ebenfalls dazu beitrage, dass eine zunehmende Gewaltbereitschaft unterstellt werde. „Der Blick fällt immer auf das Negative – dass wir in Deutschland weltweit mit einer der niedrigsten Gewaltraten leben, wird dagegen kaum wahrgenommen und wenig in der Öffentlichkeit diskutiert.“

Auch die jüngste Statistik des Polizeipräsidiums Oberpfalz bestätigt, dass die Gesamtzahl der Straftaten einen historisch niedrigen Stand erreicht haben. Allerdings gab es bei den Gewalttaten einen Anstieg von 2,3 Prozent. Noch deutlich höher, wenngleich es aktuell noch keine offiziellen Zahlen gibt, wird der Anstieg bei den Gewalttaten gegenüber Polizeibeamten ausfallen, sagt Polizeisprecher Albert Brück. Er spricht von „stark steigenden Zahlen“ im Jahr 2017. Im Jahr 2016 waren 519 Attacken auf Polizisten in der Oberpfalz zur Anzeige gebracht worden.

Deeskalationstraining an Kliniken

Dass immer häufiger Ärzte in brenzlige Situationen geraten, offenbart eine Umfrage des Ärztlichen Nachrichtendienstes, wonach 44 Prozent der Ärzte angaben, dass sie oder Mitarbeiter mindestens einmal pro Woche von einem Patienten grob beleidigt würden. Jeder vierte Arzt hat Erfahrungen mit körperlicher Gewalt gemacht. Am Uniklinikum Regensburg wird in brenzligen Situationen die Polizei gerufen, so Pressesprecherin Katja Rußwurm.

Zudem erhalten die Mitarbeiter Deeskalationstraining, und die Schichten werden so zusammengestellt, dass stets erfahrene Mitarbeiter im Dienst sind und im Notfall eingreifen können. In der Klinik der Barmherzigen Brüder gibt es inzwischen Überlegungen, dem Empfang einen Wachdienst zur Seite zu stellen. Denn insbesondere im Bereich des Notfallzentrums gebe es immer wieder aggressives Verhalten. Etwa ein- bis zweimal im Monat, so Pressesprecherin Svenja Uihlein, kommt es zu versuchten tätlichen Übergriffen. „Und leider auch etwa einmal pro Jahr zu einer vollzogenen Gewalttat.“

Quelle