„Das Aachener Modell“ Reduzierung von Bedrohungen und Übergriffen an Arbeitsplätzen
Gewaltprävention – ein Thema für öffentliche Verwaltungen?!
Die Beschäftigten in öffentlichen Verwaltungen sind zunehmend einer steigenden Zahl von Übergriffen und Bedrohungen durch Kunden ausgesetzt. Die Erscheinungsformen von Gewalt, mit denen besonders Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Publikumsverkehr konfrontiert werden, decken ein großes Spektrum ab. Sie reichen von einfachen Beschimpfungen, Anschreien und Beleidigungen, über das Werfen von Gegenständen und Randalieren bis hin zu Gewaltszenarien, die das Eingreifen spezialisierter Polizeieinheiten erfordern.
Übergriffe an Arbeitsplätzen mit Publikumsverkehr sind meistens nicht vorhersehbar. Die Gründe sind vielschichtig und für jede Situation spezifisch. Es gibt allerdings bestimmte Situationen für Beschäftigte, die ein grundsätzliches Risiko beinhalten. Die häufigsten sind:
- der Umgang mit Waren, Bargeld und Wertsachen
- das Verweigern von Leistungen
- Einzelarbeitsplätze oder Einzelgespräche
- der Kontakt zu Personen, die zu Aggressionen neigen oder die unter Alkohol- beziehungsweise Drogeneinfluss stehen
- Schlecht organisierte Behörden und Unternehmen, die ihre Kunden durch lange Wartezeiten oder fehlerhafte Rechnungen, Bescheide und Auskünfte verärgern
Die Auswirkungen verbaler, psychischer und physischer Gewalt sind bei den Betroffenen häufig der Auslöser für Hilflosigkeit, Verunsicherung, Demotivierung, Verzweiflung, Angstzustände, bis hin zu Stresssymptomen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Steigende Fehlzeiten, Ausfalltage, sinkende Motivation, geringere Produktivität und eine Verschlechterung des Betriebsklimas können eine Folge von Übergriffen auf Beschäftigte und mangelnder Krisenintervention im Betrieb sein. Darüber hinaus führen Vandalismus und Sachbeschädigungen zu erheblichen Kosten und können betriebliche Abläufe nachhaltig stören.
Die Unfallkasse Nordrhein-Westfalen und das Polizeipräsidium Aachen entwickelten 2008 das „Aachener Modell“ für sichere Arbeitsplätze und einen wirkungsvollen Arbeits- und Gesundheitsschutz im öffentlichen Dienst. Das „Aachener Modell“ greift die unterschiedlichen Facetten von Gewalt auf und strukturiert mit vier verschiedenen Gefährdungsstufen dieses komplexe Thema.
Die vier Gefährdungslagen unterteilen sich in:
- Stufe 0: normale bzw. kontroverse Gesprächssituation
- Stufe 1: verbale Aggressionen unangepasstes Sozialverhalten, Sachbeschädigung
- Stufe 2: körperliche Gewalt, eindeutige Bedrohung / Nötigung
- Stufe 3: Einsatz von Waffen/Werkzeugen, Bombendrohung, Amok, Geiselnahme, Überfall, usw.
Für jede der vier Gefährdungslagen wird dargestellt, wer in bedrohlichen Situationen handeln muss, wie bei einem unvorhergesehenen Ereignis zu reagieren ist und welche technischen und organisatorischen Voraussetzungen ein Betrieb bzw. eine Verwaltung im Vorfeld schaffen muss, um gewalttätige Ereignisse wirkungsvoll zu verhindern.
Auch erfahrene und geübte Beschäftigte können in bedrohliche Situationen geraten, welche die Unterstützung von Hilfskräften erfordern. Um die eigene Handlungsfähigkeit in einer Zwangslage aufrecht zu erhalten, ist das Hinzuziehen von Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzten oder des Sicherheitsdienstes empfehlenswert. Die Möglichkeit, im Notfall einen Alarm auslösen zu können, unter dem Aspekt eines verstärkten Sicherheitsgefühls am Arbeitsplatz, ist für Beschäftigte sinnvoll und wichtig.
In der betrieblichen Praxis läuft der Alarm nicht selten in Nachbarbüros oder an einer zentralen Stelle auf und alarmiert Kolleginnen und Kollegen zur Hilfeleistung. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Alarmierung von Kolleginnen und Kollegen offenkundig im Widerspruch zu der Forderung „Beschäftigte sind grundsätzlich vor gefahrenträchtigen Situationen zu schützen“ und der Empfehlung „Hilfe des Büronachbars oder der Vorgesetzen einzufordern“ steht.
Es existieren verschiedene technische und organisatorische Lösungen, diese Problematik zu lösen. Da es sich in der Gefahrenstufe „1“ meist um verbale Aggressionen (Beleidigungen) und unangepasstes Sozialverhalten (Sachbeschädigung) handelt, ist die Gefahr einer körperlichen Verletzung für den Beschäftigten und die angeforderten Hilfskräfte eher gering. Erfahrungen zeigen, dass die Präsenz von mehreren Personen während einer Auseinandersetzung durchaus temporär deeskalierend wirken kann. Sicherlich findet dadurch keine Deeskalation statt, allerdings wird ein weiteres „Aufschaukeln“ der Situation verhindert. Häufig sind nachgelagerte Gespräche und die Lösung des zugrundeliegenden Konflikts notwendig.
Durch ein geeignetes Alarmierungssystem (z. B. akustische oder optische Warnsignale, softwareunterstützte Systeme mit PC-Tastenkombination, Icon auf dem Monitor, Notfall-Taster etc.) können die Kollegen der angrenzenden Büros informiert werden.
Bei Alarmauslösungen innerhalb der Gefahrenstufe „2“ ist die Wahrscheinlichkeit einer körperlichen Auseinandersetzung deutlich höher als in den vorangegangen Stufen. Neben dem Prinzip „Kollegen stehen Kollegen bei“ greift hier der Grundsatz „Sicherheit ist von Profis sicherzustellen“.
Für die praktische Umsetzung eines Alarmierungssystems sind besonders die Fragen „wie wird der Alarm ausgelöst“, „wo läuft der Alarm auf“ oder „welche Reaktionskräfte werden zur Hilfeleistung verständigt“ von großer Relevanz. Nach dem Grundsatz „Sicherheit ist von Profis sicherzustellen“ kommen zur Klärung der Szenarien der Gefährdungsstufe „2“ und „3“ demzufolge vor allem Sicherheitsdienste und/oder Einsatzkräfte der Polizei in Betracht.
Wird ein mehrstufiges Alarmierungssystem eingesetzt, muss gewährleistet werden, dass bereits bei Alarmauslösung für alle Beschäftigten erkennbar ist, ob es sich um einen Alarm der Stufe „1“ oder um einen deutlich gefährlicheren Alarm der Stufe „2“ oder „3“ handelt. Für die Kolleginnen und Kollegen müssen Meldewege, Verhaltensweisen und Verantwortlichkeiten verbindlich festgeschrieben und bekannt sein.
Das mehrstufige Alarmierungssystem sollte dem „Aachener Modell“ zufolge:
- In Konfliktsituationen (Stufe 0, 1) die Kollegen alarmiert werden, um Öffentlichkeit zu erzeugen
- In gefährlichen Situationen (Stufe 2, 3) die gleichen Kollegen vom Tatort ferngehalten und besondere Einsatzkräfte alarmieren
Es empfiehlt sich, Handlungsverpflichtungen, Verhaltensempfehlungen, Verantwortlichkeiten und Meldewege in Dienstvereinbarungen verbindlich zu regeln. Um größtmögliche Handlungssicherheit zu gewährleisten, müssen Alarm- und Notfallübungen sowie Unterweisungen regelmäßig durchgeführt werden.
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