“Die Hemmschwelle wird niedriger”

Was das deutsche Sozialsystem mit dem Amokalarm in Konstanz zu tun hat


Von suedkurier.de

Im Interview erklären Sabine Senne und Katja Thönig vom Jobcenter Konstanz, wie ihre Mitarbeiter im Notfall geschützt sind, warum die Kunden so frustriert sind, dass sie ausrasten und was sich gesetzlich ändern müsste.

Die Mitarbeiter im Jobcenter haben für Bedrohungslagen Alarmknöpfe für verschiedene Szenarien – vom verbalen Übergriff bis zum Amok-Fall, sobald Waffen wie ein Messer im Spiel sind.

Frau Senne, am Dienstag mussten Sie zum ersten Mal den Amok-Alarm auslösen. Wie geht der Betrieb einen Tag später weiter?

Sabine Senne: Nachdem wir gehört haben, dass der Täter wieder frei gelassen und in eine Fachklinik gebracht worden ist, haben wir noch am Abend beschlossen, dass wir das Haus für den nächsten Tag schließen. Die Mitarbeiter haben wir per Mail darüber informiert. Ab Donnerstag gelten wieder die normalen Öffnungszeiten.

Gibt es für Notfälle bestimmte Ablaufpläne?

Katja Thönig: Ja, wir haben für verschiedene Szenarien Notfallpläne und klare Anweisungen: bei verbalen Übergriffen und für den Amok-Fall, sobald Waffen wie eben Messer im Spiel sind. Über die EDV haben wir ein elektronisches Alarmierungssystem. Am Bildschirm jedes Mitarbeiters wird angezeigt, um welches Szenario es sich handelt. Die Kolleginnen und Kollegen sind instruiert, wie sie sich dann zu verhalten haben. Im Amok-Fall heißt das, sich mit den Kunden im Büro einzuschließen. Zur Notfallvorsorge gehört auch, dass wir alle unsere Mitarbeiter in den Bereichen Gesprächsführung und Deeskalation in mehrtägigen Veranstaltungen und mit praktischen Übungen im eigenen Büro schulen. Diese Schulungen finden für die Mitarbeiter regelmäßig statt, nicht nur einmal.

Kommt es öfter vor, dass Mitarbeiter bedroht werden, sei es verbal oder tatsächlich mit Waffen?

Sabine Senne: Das sind Einzelfälle, die man in der Regel an einer Hand abzählen kann. Der Alarmknopf bei verbalen Übergriffen wird vielleicht zwei bis drei Mal im Jahr pro Geschäftsstelle Konstanz oder Singen gedrückt. Zugenommen haben aber in den vergangenen Jahren die Hasskommentare im Internet. Die Hemmschwelle wird immer niedriger und was wir da erleben ist längst nicht mehr als Kavaliersdelikt zu entschuldigen. Das sind heftige Beleidigungen, in denen Mitarbeiter mit Namen genannt und aufs Übelste beschimpft werden. Wir haben uns schon mit der Firma Google auseinandergesetzt und den Bundesdatenschutzbeauftragten kontaktiert, damit solche Hasskommentare gelöscht werden. Passiert ist nichts. Das kann es doch nicht sein. Dagegen muss man sich wehren können.

Katja Thönig: Die Hasskommentare sind das eine – der Schritt den Amok auszulösen, eine andere Geschichte. Aber noch bevor wir aus dem Gebäude draußen waren, gab es schon Online-Kommentare von irgendwelchen Menschen, die Dinge geschrieben haben wie: „Das geschieht denen Recht“. Oder: „Mit dem Jobcenter hatte ich auch schon Ärger, das trifft die Richtigen.“ Das macht mich wütend, aber auch traurig. Weil ich mich da schon frage, was wir da für eine Gesellschaft haben.

Kann jeder unkontrolliert Einzelbüros im Jobcenter betreten oder gibt es eine Kontrolle an der Pforte?

Katja Thönig: In keiner unserer Geschäftsstellen gibt es eine Pforte. Wir sind beratend tätig für Menschen, die hilfsbedürftig sind und haben keine Sicherheitskontrolle mit Ausweis oder ähnlichem.

Und finden das auch nicht notwendig?

Sabine Senne: Das müssen wir nun neu beleuchten. Wir hatten auch dazu am Mittwochmorgen ein Gespräch mit allen Teamleitern.

Warum sind die Kunden so frustriert, dass sie ausrasten?

Sabine Senne: Das Jobcenter ist für die Grundsicherung für Arbeitslose zuständig. Ich sage immer: Wir sind das Ende in der Kette. Wir haben mit den Menschen zu tun, die nirgendwo anders Geld her bekommen. Wir müssen Sanktionen aussprechen oder Anträge ablehnen, weil die gesetzliche Vorgabe nun mal so ist, wie sie ist. Da kann natürlich der ein oder andere schon mal ausrasten. Wenn Sie kein Geld mehr haben und nicht wissen, wie Sie sich was zu essen kaufen sollen, dann wird das schon eine bedrohliche Situation. Das rechtfertigt aber weder eine Beleidigung noch einen tätlichen Übergriff mit Waffen.

Katja Thönig: Mit der Hartz-IV-Reform sollte eigentlich alles einfacher werden. Das Gegenteil ist eingetreten. Es wurde ein hoch kompliziertes Sozialsystem geschaffen, das viel zu bürokratisch ist. Es müssen sehr viele Belege gesammelt und Nachweise erbracht werden, jede Änderung der Lebenssituation führt sofort zu einer Änderung des Anspruchs. Die Betroffenen bekommen dann Bescheide, die 20 bis 40 Seiten umfassen und die sie nicht nachvollziehen können. Die Anforderungen an die Mitarbeiter sind sehr hoch.

Es geht ja nicht nur darum auszurechnen, wie viel Geld jemand nach dem SGB II bekommt. Zum Beispiel müssen die Sachbearbeiter prüfen, in welcher Form ein Kunde sein Warmwasser aufbereitet. Erfolgt die Warmwassererzeugung über die Heizung oder über einen gesonderten Warmwasserboiler? Je nachdem erhält er dann einen Mehrbedarf oder auch nicht. Es geht auch um die Krankenversicherung, darum, ob jemand noch erwerbsfähig ist oder nicht oder er in Rente geschickt werden muss.

Was müsste sich aus Ihrer Sicht gesetzlich ändern?

Sabine Senne: Das SGB II müsste wirklich mal entrümpelt werden.

Katja Thönig: Da stimme ich voll und ganz zu. Zudem sollten die Jobcenter eigenständige Behörden werden, um Entscheidungsprozesse zu beschleunigen.

Fragen: Sandra Pfanner Der Unterschied zwischen Jobcenter und Agentur für Arbeit Zu den Interviewpartnern: Sabine Senne hat 2015 die Geschäftsführung des Jobcenters im Kreis Konstanz übernommen. Zuvor war die Diplomverwaltungswirtin elf Jahre Leiterin des Kreisjugendamts. Senne stand 35 Jahre im Dienst der Kreisverwaltung, bevor sie ins Jobcenter wechselte. Der Kreistag hatte sie für die neue Aufgabe vorgeschlagen. Katja Thönig ist beim Jobcenter im Kreis Konstanz die Leiterin des Bereichs Leistungen.
Das Jobcenter in der Konzilstraße ist eine gemeinsame Einrichtung der Bundesagentur für Arbeit und der Kommune. Das Jobcenter hat in erster Linie die Aufgabe für Geldleistungen zum Lebensunterhalt zu sorgen. Die Kunden sind also Arbeitslose, die die das Arbeitslosengeld II – besser bekannt als Hartz IV – nach dem zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) beziehen.
Bei der Agentur für Arbeit, früher Arbeitsamt genannt, in Stromeyersdorf melden sich Arbeitsuchende, die neu arbeitslos geworden sind. Sie bleiben 12 Monate oder teilweise bis zu 18 Monaten dort gemeldet, das hängt vom Alter ab. Kunden der Agentur für Arbeit haben Anspruch auf Arbeitslosengeld I nach dem dritten Sozialgesetzbuch (SGB III). Finden sie keinen Job in dieser Zeit, werden sie dem Jobcenter zugewiesen. (sap)

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